Die Wurzeln des Anarchosyndikalismus in Österreich
1872 brach bekanntlich die 1. Internationale zusammen. Wie in fast allen industrialisierten Ländern kam es auch in Österreich zu einer Differenzierung der ArbeiterInnenbewegung, die sich bis dahin unter dem Begriff „Sozialdemokratie“ gesammelt hatte. Der eine Flügel lässt sich allgemein mit den Begriffen gemäßigt/autoritär/staatssozialistisch charakterisieren, der andere sah sich als radikale/libertäre/sozialrevolutionäre Fraktion. Die „Gemäßigten“ wurden (etwas abschätzig) auch „die Blauen“ genannt, beriefen sich auf Karl Marx und waren vor allem vom Vorbild der deutschen Sozialdemokratie geleitet. Lasalle etwa hatte mit seinem „ehernen Gesetz“, wonach jegliche ökonomische Aktion sinnlos sei, da jeder erkämpften Lohnerhöhung eine Preiserhöhung folgen würde, die Sozialdemokratische Partei auf den rein politischen, „gesetzlichen“ d.h. parlamentarischen Weg eingeschworen. Ursprünglich sollte seiner Ansicht nach die gewerkschaftliche Bewegung nicht mal mehr taktische Bedeutung im Kampf um die Eroberung der politischen Macht haben.Die „Radikalen“, auch „die Roten“ genannt, beriefen sich ebenso auf Karl Marx, aber auch auf den Anarchisten Michael Bakunin, russische Sozialrevolutionäre, später auf die Weiterentwicklung des kollektivistischen Anarchismus, den Anarcho-Kommunismus wie er u.a. von Pjotr Kropotkin formuliert wurde. Sie traten unter verschiedenen Namen und Organisationen auf (Radikale Arbeiterpartei, radikale Sozialisten, revolutionäre Sozialisten, unabhängige Sozialisten). Die soziale Struktur der AnhängerInnen der beiden Strömungen war sehr unterschiedlich. V. a. Industriearbeiter, die den Gemäßigten näher standen, bildeten eine Art Arbeiteraristokratie, da sie oft jene ArbeiterInnen, die für Kleingewerbetreibende arbeiteten, verachten. Sie verachteten das „Lumpenproletariat“, jene die ihrer Meinung nach im Kampf zu einem besseren Dasein zu allen Mitteln bereit waren. Die Radikalen und Anarchisten hingegen bauten auf „jene unglücklichen Opfer der Gesellschaft“, die meist als ehemalige Landarbeiter und deklassierte Kleinbauern arbeitslos vor den Fabrikstoren für Hungerlöhne um Arbeit bettelten. Da es in der ArbeiterInnenbewegung zu jener Zeit außer Streit stand (auch bei den Gemäßigten), dass es früher oder später zu einer sozialen Revolution kommen würde, wundert es nicht, dass die Mehrheit der organisierten ArbeiterInnen dem radikalen Flügel nahe stand, da ihnen der parlamentarische Weg bestenfalls als taktisches Mittel (unter vielen), niemals aber als Lösung ihrer Probleme erschien Beiden Strömungen ging es (oft nicht genauer definiert) um die Abschaffung des Privateigentums und damit die Beseitigung der privatkapitalistischen Produktionsweisen. Für die Gemäßigten gab es hierzu zwei Vorbedingungen: die Entwicklung der Produktionsverhältnisse und die Eroberung der politischen Macht, wozu erst das allgemeine, gleiche und direkte Wahlrecht erreicht werden müsse. Die Radikalen, Sozialrevolutionäre und AnarchistInnen hingegen meinten, dass durch das allgemeine und direkte Wahlrecht die „soziale Frage“ nicht gelöst werde. Statt der Eroberung der politischen Macht erschien ihnen eine soziale Revolution zielführender. Die AnarchistInnen, die sich auch „libertäre Kommunisten“ nannten, erstrebten nicht wie fälschlicherweise von bürgerlicher und sozialdemokratischer Seite unterstellt, Chaos und Terrorismus an, sondern vielmehr die Errichtung einer anarchistisch-kommunistischen Gesellschaft mit autonom-föderativer Struktur durch die soziale Revolution. Die Wahlrechtkampagne der Gemäßigten machte es notwendig, zunehmend mit den Liberalen im Reichstag (welche sich vor allem aus dem Industriekapital bildeten, das sich gerade im Machtkampf mit den alten Feudalklerikalen befand) zu kooperieren. Diese paradox wirkende Situation rief naturgemäß auch einiges Unverständnis in der ArbeiterInnenschaft hervor. Auch war die Zeitung der Radikalen, „Die Zukunft“, wesentlich populärer als z.B. „Der Sozialdemokrat“, den die Gemäßigten aus Deutschland bezogen. Der wachsende Einfluß der Radikalen SozialistInnen wurde erst mit der Verhängung des Ausnahmezustandes 1884 gebrochen. Erst dadurch konnte sich die gemäßigte Strömung der Sozialdemokratie beim Einigungsparteitag in Hainfeld (1888/89) durchsetzen. Mit dem Hainfelder Parteitag war es der sozialdemokratischen Arbeiterpartei gelungen, radikale Elemente in der Partei weitgehend unschädlich zu machen oder rauszudrängen, zum anderen aber auch Teile davon zu integrieren. Bekanntlich gelang es der Sozialdemokratie in Folge weitgehend, in das politische System der Monarchie integriert zu werden, was auch in das allgemeine Wahlrecht für Männer 1907 gipfelte*).
In den 1880ern kam es aber zu einer deutlichen Radikalisierung der ArbeiterInnenschaft, was sich unter anderem auch in zahlreichen Gewaltakten gegen politische und ökonomische Repräsentanten sowie Polizeioffizieren aber auch in der wachsenden Popularität legendärer Krimineller, welche zugunsten der Armen die Reichen bestahlen, widerspiegelte. Während des Ausnahmezustandes in Österreich/Ungarn (ähnlich den Sozialistengesetzen im Deutschen Reich) mussten die Zusammenkünfte der SozialistInnen geheim oder durch „apolitischen“ Veranstaltungen (z. B. Gewerkschaftsvereine) getarnt stattfinden. In Deutschland hatte dies dazu geführt, dass einige ArbeiterInnen die egalitäre, auf den rein ökonomischen und sozialen Kampf orientierte Struktur gegenüber der zentralistischen Partei favorisierten. So hatte sich letztlich der revolutionäre (auch Anarcho-) Syndikalismus aus einer Notlösung gegenüber der staatlichen Repression entwickelt. Es gab noch Mitte der 1890er Jahre, aber auch nach der Jahrhundertwende, wilde und spontane Aufstände in Wien, die von keiner bestimmten politischen Strömung organisiert worden waren, aber eine nach wie vor bestehende revolutionäre Tendenz in der ArbeiterInnenschaft offen legten. Bis zum Ausnahmezustand hatte es zahlreiche radikale „Arbeitervereine“, also Gewerkschaften gegeben, u.a. bei den Bäckern, Hutmachern, Schneidern, Tischlern/Drechslern/Stuhlmachern mit jeweils einigen Tausend Mitgliedern. Bis in den 1.Weltkrieg hinein sollte v.a. die radikale SchuhmacherInnengewerkschaft in Österreich bestehen bleiben. Sie war noch nicht explizit “anarchosyndikalistisch” sondern eine Berufsgewerkschaft mit stark anarchistischen Tendenzen. Die 1904 in Wien erschienene Zeitung “Generalstreik” wird allerdings auch als die erste anarchosyndikalistischen Zeitung überhaupt bezeichnet. 1917 war der 1.Weltkrieg auf seinem blutigen Höhepunkt angekommen. In der v.a. auch von Frauen getragenen Produktion kam es zunehmend zu Streiks. Gipfel dieser Streikbewegung war der große Jännerstreik 1918. Dieser war wohl ein entscheidender Schritt in Richtung Kriegsende. V.a. im Raum Niederösterreich/Wien kam es, erst recht nach Ausbruch der russischen Revolution, zur Bildung einer gemeinhin als “linksradikal” (in Abgrenzung zur sozialdemokratischen Linken) bezeichneten Rätebewegung. 750 000 ArbeiterInnen beteiligen sich am Jännerstreik (davon 550 000 auf dem Gebiet des heutigen Österreichs). Es folgen weitere Streiks, Fabriksbesetzungen, Meutereien… und die Bildung von ArbeiterInnenräten. An den ersten österreichweiten Ur-Wahlen zu den Arbeiterräten beteiligen sich 800 000 ArbeiterInnen! **)
Leo Rothziegel mit Egon Kisch
Leo Rothziegel, einer der bekanntesten österreichischen Revolutionäre in der Rätebewegung (er fiel in der ungarischen Räterevolution) war Anarchosyndikalist und hat zusammen mit seiner Gruppe einen relativ starken Einfluß während des großen Jännerstreiks. Die AnarchosyndikalistInnen waren im anarchistischen Bund Herrschaftsloser Sozialisten organisiert und konnten v.a. im wiener Bezirk Favoriten eine gewisse AnhängerInnenschaft mobilisieren. Die Rätebewegung konnte sich allerdings v.a. nach der Niederschlagung der ungarischen Räterepublik nicht mehr gegen die staatliche Repression und der sozialdemokratischen Kompromißpolitik mit der bürgerlichen Klasse behaupten. Ein Teil der Rätebewegung glaubte den sozialdemokratischen Verheißungen (”Rotes Wien”), während ein anderer Teil, wie beispielweise die u.a. von Leo Rothziegel ins Leben gerufene “Föderation Revolutionärer Sozialisten, Internationale” in der neugegründeten an der Sowjetunion orientierten Kommunististischen Partei Deutschösterreichs KPDÖ – später KPÖ – aufging. Leider war es den AnarchosyndikalistInnen nicht gelungen einen stärkeren und v.a. eigenständigen Einfluß auf diese Entwicklungen zu nehmen. In Österreich war es also der Sozialdemokratischen Partei in der Folge gelungen, die radikalen Elemente der ArbeiterInnenbewegung weitgehend kalt zu stellen, indem zum einen mit der Drohung einer Revolution der Bourgeoisie zahlreiche soziale Errungenschaften abgepresst werden konnten (als taktisches Instrument war der revolutionäre Teil der ArbeiterInnenbewegung gut genug), zum anderen die gesamte ArbeiterInnenbewegung dem Diktat einer auf (parlamentarische) politische Machteroberung ausgerichteten Partei unterworfen werden konnte.
In Österreich hat es aber in den 1920er – Jahren in Folge der räterevolutionären Bewegungen – wenn im internationalen Vergleich auch sehr kleine- anarchosyndikalistische Organisationsansätze gegeben. 1921 gab es bereits einen Kongress der Anarchosyndikalisten in Innsbruck. Es gab jedoch zu diesem Zeitpunkt noch keinen erfolgreichen Versuch, eine österreichweite anarchosyndikalistische Gewerkschaftsföderation aufzubauen. Es existierten jedoch zahlreiche Betriebsgruppen und Syndikate, die sich v.a. im anarchistischen Bund Herrschaftsloser Sozialisten (BhS) organisiert haben. Der BhS war nach der Revolution 1818/19 von Kreisen um den Anarchisten Pierre Ramus in Wien gegründet worden, und erfreute sich bald eines großen Zuspruchs: „Der ´linksradikale´ Flügel der SJ, viele Mitglieder der ´FREIE VEREINIGUNG RADIKALSOZIALISTISCHER STUDENTEN´ , die VEREINIGUNG HERRSCHAFTSLOSER GEISTIGER ARBEITER´, der sogenannte ´KUNSTKULTURBUND`, die ´FREIE SCHUHMACHERGEWERKSCHAFT`, der `BUND FREIER JUGEND`, verschiedene `SIEDLUNGS- UND PRODUKTIONSFÖRDERUNGEN´, mehrere `herrschaftslos-sozialistische Kleinsiedlungen´ wie etwa: FRUCHT HAIN, EDEN, ZUKUNFT, MENSCHENFRÜHLING u. a., die `MIETZINSLEGION GRAZ`, natürlich verschiedene `Arbeiterverbände´ in Wien, Graz, Linz, Steyr, Mürzzuschlag, Wr. Neustadt…, einige `Syndikalistische´ Gruppen (Gastgewerbe, Taxifahrer, Schuhmacher), der `BUND DER KRIEGSDIENSTGEGNER´, die stirnenanische `VEREINIGUNG INDIVIDUELLER ANARCHISTEN´ um nur einige zu nennen, schlossen sich bald dem BhS an, bzw. sympathisierten oder vernetzten sich in Aktionsgemeinschaften mit diesem. 1925—26 war der BhS in mindestens 60 verschiedenen Ortsgruppen organisiert und hatte mehr als 4.000 zahlende Mitglieder. (Arbeitslose Mitglieder wurden nicht wie zahlende geführt und können daher heute nicht mehr nachgewiesen werden.) Dazu kamen noch die vielen freien Mitarbeiter und Sympathisanten in ganz Österreich. Der BhS-( Anarchisten), wie er sich an Flugblättern, Einladungen zu Vorträgen und Versammlungen, Plakaten und in Publikationen (z. B. „ERKENNTNIS UND BEFREIUNG“) bezeichnete, war unbestritten fast 20 Jahre lang die größte anarchistische Organisation in Österreich. Mit dem Ausbruch des Austrofaschismus kam auch das Ende für den BhS.“ ***)
Der BHS entwickelte sich allerdings mit seinem „Führer“ Pierre Ramus im Laufe der Zwischenkriegszeit weg von anarchosyndikalistischen Grundlagen hin zu einem auf genossenschaftlichen Ideen beruhenden Reform-AnarchistInnenverein, der sich von der Perspektive einer revolutionären ArbeiterInnenklasse entfernte.
In den 30er Jahren gründete eine 30 bis 40 Personen starke anarchosyndikalistische Agitationsgruppe einen österreichischen Ableger der deutschen Freien Arbeiter Union. Die FAU-Ö brachte u.a. die Zeitung „Der Freie Arbeiter“ heraus und vertrieb die deutsche Zeitschrift „Der Syndikalist“ in Österreich. Eine Taxifahrer-Berufsvereinigung war die zahlenmäßig wichtigste Initiative, die der FAU-Ö entsprang. Ihr sollen auf ihrem Höhepunkt an die 1200 Taxifahrer angehört haben (laut Polizei 120 eingeschriebene Mitglieder und 1200 AbonenntInnen der Zeitung). Allerdings traten mit dieser personellen Verbreiterung die anarchosyndikalistische Grundlage stark in den Hintergrund, man trat vielmehr als alternative Berufsvereinigung zu den sozialdemokratischen (Bus-)Fahrergewerkschaften v.a. bei Betriebsratswahlen auf. Auch fanden sich in der Folge mitunter wohl kaum mit anarchosyndikalistischen Prinzipien zu vereinbarende Äußerungen in der Zeitschrift “der Taxichauffeur” wie antisemitische Angriffe gegen einige Fuhrwerkunternehmer. Das heißt, es gelang nach der Niederlage der Rätebewegung 1918/19 erst gegen Ende der 1.Republik angesichts des bereits aufkeimenden Faschismus wieder eine gewerkschaftliche Verankerung zu erlangen, die ArbeiterInnenbewegung (nicht nur die anarchosyndikalistische) war zu diesem Zeitpunkt aber bereits in einem v.a. qualitativen Niedergang begriffen. Interessant ist allerdings, dass unter Taxichauffeuren bis in den austrofaschistischen Ständestaat eine gewisse Radikalität erhalten bleiben sollte, so kam es 1934 zu gegen das Regime gerichteten Taxiblockaden rund um die Innenstadt von Wien (Regierungsviertel).
Es gab allerdings zu jedem Zeitpunkt auch anarchistische Initiativen mit stark syndikalistischen Tendenzen, die sich v.a. mit propagandistische Aktivitäten bemerkbar machten. Auch können die Wiener AnarchosyndikalistInnen in den 30ern noch einmal einen kleinen Erfolg verbuchen: So wurde ein wilder Streik in einem Caféhaus gewonnen.
Der für das restliche Europa unvorhersehbare Ausbruch der spanischen Revolution 1936 ließ noch einmal die libertäre Hoffnung aufflackern. Bemerkenswerter Weise brachte eine wiener anarchosyndikalistische Untergrundgruppe 1936 – 1937, schon zur Zeit der austrofaschistischen Diktatur von der spanischen Revolution inspirierte Flugblätter heraus.
Von AnarchosyndikalistInnen kollektivierte Verkehrsbetriebe in Barcelona
Aus der Zeit der Nazi-Diktatur sind im Moment nur einige in Wien verbreitete (eher individual-) anarchistische Schmähschriften gegen Hitler bzw. den „Anschluss“ an Deutschland bekannt.
Nach dem Zweiten Weltkrieg knüpfte die libertäre Bewegung in Wien v. a. an die genossenschaftlichen Traditionen eines Pierre Ramus an. Allerdings gab es anders ausgerichtete anarchistische Gruppierungen, v.a. auch in der Steiermark (Schwerpunkt war v.a. Antimilitarismus).
Auch gelang es einer zeitweise recht großen und inhaltlich breit gefächerten, vorrangig libertär/syndikalistische Gruppe in Wien/Hietzing, welche u.a. unter dem Namen „Hietzinger Revolutionärsozialisten und Anarchisten“ firmierte, Kontinuitäten von der Zwischenkriegszeit bis in die 1950er Jahre aufrecht zu erhalten (beteiligt waren anfangs auch Ramus, später dann u.a. Newerkla, Lanner, Rudolf Geist).
In Folge der Alternativbewegung in den 1970ern bzw. der Ökologiebewegung in den 80ern, v.a. auch durch die Arena-Bestzung in Wien wurde die libertären Szene verjüngt und wiederbelebt, die Tendenz zu genossenschaftlichen Ideen blieb erhalten.
1993/94 wurde auch erstmals wieder eine FAU-Ö gegründet, wenngleich sie eine auf den Raum Wien begrenzte Initiativgruppe bleiben sollte, die sich mit dem Rückzug ihres Gründers Adi Rasworschegg auflöste (Nachruf auf Adi Raswoschegg). Etwa zur selben Zeit organisierte Adi Rasworschegg den „Pfingstkongress der FAU/IAA“ in Wien, dem die „Libertären Tage“ (gemeinsam mit dem RBH) im vierten Wiener Gemeindebezirk folgten.
Allerdings war die FAU-Ö auch bemerkenswerter Weise in den 1990ern bei zwei wilden Streiks in einem Lager der Lebensmittelkette Billa in Wiener Neudorf beteiligt. Rund 80 Personen bildeten in diesem Zusammenhang die „BILLA Protest Initiative“. Im Zentrallager der BILLA-Supermarktkette war es zu sozialrechtlichen Auseinandersetzungen zwischen der Geschäftsleitung und den überwiegend türkisch- und kurdischstämmigen ArbeiterInnen gekommen. Hier konnten einige Verbesserungen im Hinblick auf die Arbeitssituation durchgesetzt werden.
In den 90ern ist neben autonomen Gruppen im wesentlichen die sozial-anarchistische Agitpropgruppe Revolutionsbräuhof in Wien zu nennen, die über längere Zeit eine beachtlichen Propandatätigkeit entfaltete, sich allerdings weitgehend auf Theorieverbreitung beschränkte.
Erst gegen Ende der 90er gab es wieder eine Initiativgruppe für eine FAU Wien, die aber nicht von langer Lebensdauer war. Erst mit der Bildung von FAU-Initiativgruppen in Oberösterreich und Vorarlberg kann wieder von einer FAU-Österreich gesprochen werden, die jedoch eher auf dem Papier bestand.
Wohl lag hierin bislang auch das Problem, dass viele beteiligte Personen eher auf der Suche nach einer allgemeinpolitischen libertären/linksradikalen österreichweiten Organisation waren, denn nach einer anarchosyndikalistischen Gewerkschaftsföderation. Mit der Gründung des Allgemeinen Syndikat Wiens und den Gewerkschaftsinitiativen (vorerst) in den Branchen Sozialarbeit und Bildung erhoffen wir uns, Fehler der Vergangenheit zu vermeiden, indem wir die anarchosyndikalistischen Organisierung v. a. auch auf die Grundlage des praktischen ökonomischen Kampfes stellen wollen. Jüngst ist auch ein Allgemeines Syndikat in Oberösterreich und in der Folge erstmals seit langer Zeit wieder eine funktionierende österreichweite anarchosyndikalistische Föderation entstanden.
(Fortsetzung folgt)
*) Vgl. v.a. Staudacher, Anna: Sozialrevolutionäre und Anarchisten. Die andere Arbeiterbewegung vor Hainfeld. Wien: Verlag für Gesellschaftskritik, 1988.
**) Vgl. einschlägige Publikationen von Hans Hautmann
***) „Was ist und will der Bund herrschaftsloser Sozialisten? Die auf der Bundestagung am 25. und 26. März 1922 angenommenen Leitsätze und Richtlinien unserer Anschauung und Betätigung“ Nachdruck der Broschüre durch den Revolutionsbräuhof (RBH). Original erschienen im Verlag „Erkenntnis und Befreiung“, Wien – Klosterneuburg.
P.S.: ACHTUNG! Dies soll keine, schon gar keine vollständige Historiografie des österreichischen Anarchismus sein! Wir haben lediglich versucht die uns bekannten Entwicklungslinien des österreichischen Anarchosyndikalismus nachzuzeichnen, wobei dieser Artikel laufend ergänzt und korregiert wird.
Rudolf Rocker – Anarcho-Syndikalismus
Der Ausdruck „Arbeiter-Syndikat“ meinte in Frankreich ursprünglich nur eine gewerkschaftliche Produzentenorganisation zur mittelbaren Verbesserung ihres ökonomischen und sozialen Status. Aber das Aufkommen des revolutionären Syndikalismus gab dieser ursprünglichen Bedeutung einen viel weiteren und tieferen Sinn. So wie die Partei sozusagen die vereinheitlichte Organisation zum Zwecke der Erreichung bestimmter politischer Ziele innerhalb des modernen konstitutionellen Staates ist und die bürgerliche Ordnung in dieser oder jener Form aufrechtzuerhalten sucht, so ist, in syndikalistischer Sicht, die Gewerkschaft, das Syndikat die vereinheitlichte Organisation der Arbeit und hat es sich zum Ziel gesetzt, die Interessen der Produzenten innerhalb der bestehenden Gesellschaft zu verteidigen und die Rekonstruktion des sozialen Lebens nach sozialistischem Modell vorzubereiten und praktisch durchzuführen. Sie hat daher einen doppelten Zweck:
1. Als Kampf Organisation der Arbeiter gegen die Unternehmer soll sie die Forderungen der Arbeiter nach Sicherung und Hebung ihres Lebensstandards bekräftigen;
2. Als Schule für die intellektuelle Ausbildung der Arbeiter soll sie sie mit der technischen Organisation der Produktion und des ökonomischen Lebens im allgemeinen vertraut machen, damit sie im Falle einer revolutionären Situation fähig sind, den sozio-ökonomischen Apparat in die eigene Hand zu nehmen und ihn gemäß sozialistischen Prinzipien umzugestalten … Erziehung zum Sozialismus bedeutet ihnen nicht billige Propagandakampagne zu sog. „tagespolitischen Problemen“, sondern den Versuch, den Arbeitern die inneren Beziehungen zwischen den sozialen Problemen klarzumachen und sie durch technische Ausbildung und Entwicklung ihrer administrativen Fähigkeiten auf ihre Rolle als Neugestalter des ökonomischen Lebens vorzubereiten und ihnen die zur Ausführung dieser Aufgabe erforderliche moralische Unterstützung zu geben. Keine Körperschaft ist für diesen Zweck besser geeignet als die ökonomische Kampforganisation der Arbeiter, sie verleiht ihren sozialen Aktivitäten eine konkrete Richtung und stärkt ihren Widerstand im unmittelbaren Kampf um das Lebensnotwendige und in der Verteidigung der Menschenrechte. Dieser direkte und endlose Kriegszustand mit den Trägern des gegenwärtigen Systems läßt gleichzeitig die ethischen Vorstellungen entstehen, ohne die eine gesellschaftliche Transformation unmöglich ist: eine vitale Solidarität mit ihren Schicksalsgenossen und moralisches Verantwortungsbewußtsein für das eigene Tun.
Gerade weil die Erziehungsanstrengungen der Anarcho-Syndikalisten auf die Entwicklung unabhängigen Denkens und Handelns gerichtet sind, sind sie ausgesprochene Gegner aller zentralisierenden Tendenzen, die so charakteristisch für die politischen Arbeiterparteien sind. Aber Zentralismus, jene künstliche Organisation von oben nach unten, die die Angelegenheiten aller in Bausch und Bogen an eine kleine Minderheit delegiert, ist immer von leerlaufender bürokratischer Routine begleitet; und das zermalmt jede individuelle Überzeugung, tötet alle persönliche Initiative durch Disziplin und bürokratische Verknöcherung und erlaubt keinerlei unabhängige Aktion: Die Organisation des Anarcho-Syndikalismus richtet sich nach den Prinzipien des Föderalismus, nach freier Vereinigung von unten nach oben, stellt das Recht jedes Mitglieds auf Selbstbestimmung über alles und anerkennt nur ein organisches Einvernehmen aller auf der Basis gleicher Interessen und gemeinsamer Überzeugungen.
Es wurde dem Föderalismus oft vorgeworfen, er zersplittere die Kräfte und lähme die Kraft des organischen Widerstands … Aber auch hier haben die Tatsachen, die das Leben schuf, ein klareres Wort gesprochen als jede Theorie. Es hat auf der ganzen Welt kein Land gegeben, in dem die gesamte Arbeiterbewegung so vollkommen zentralisiert und die Organisationstechnik zu solch extremer Perfektion entwickelt war wie in Deutschland vor der Machtergreifung Hitlers. Ein mächtiger bürokratischer Apparat überzog das ganze Land und bestimmte jeden politischen und ökonomischen Ausdruck der organisierten Arbeiter. Bei den letzten Wahlen vereinigten die sozialdemokratische und die kommunistische Partei über zwölf Millionen Wähler hinter ihren Kandidaten. Aber nachdem Hitler an die Macht gelangt war, rührten sechs Millionen organisierter Arbeiter nicht einen Finger, um die Katastrophe abzuwehren, die Deutschland in den Abgrund stürzte und die innerhalb weniger Monate die Arbeiterorganisationen vollkommen zerschlug.
In Spanien aber, wo der Anarcho-Syndikalismus seinen Einfluß auf die organisierten Arbeiter seit den Tagen der Ersten Internationalen zu wahren wußte und sie durch unermüdliche libertäre Propaganda und heftiges Kämpfen im Widerstand trainiert hatte, war es die mächtige C(onfederacion) N(acional de) T(rabajadores), die durch die Kühnheit ihrer Aktion die verbrecherischen Pläne Francos zunichte machte …
Für den Staat ist Zentralismus die geeignete Form der Organisation, da er um der Erhaltung des politischen und sozialen Gleichgewichts willen auf größtmögliche Uniformität des sozialen Lebens hinzielt. Aber für eine Bewegung, für die rasches Agieren im günstigen Augenblick und unabhängiges Denken und Handeln ihrer Träger Existenzfrage ist, kann Zentralismus nur von Übel sein, weil er ihre Kraft zur Entscheidung schwächt und alle unmittelbare Aktion systematisch unterdrückt. Wenn z. B., wie im Falle Deutschlands, jeder lokale Streik erst von der Zentrale bewilligt werden muß, die oft Hunderte von Meilen entfernt und normalerweise nicht in der Lage war, ein korrektes Urteil über die örtlichen Bedingungen zu fällen, darf man sich nicht darüber wundern, daß die Trägheit des Apparats der Organisation einen raschen Angriff unmöglich macht, und daraus resultiert dann ein Zustand der Dinge, bei dem die tatkräftigen und intellektuell regen Gruppen nicht länger Vorbild sind für die wenigen aktiven, sondern von diesen zur Inaktivität verurteilt werden, die notwendigerweise die gesamte Bewegung stagnieren läßt. Organisation ist schließlich und endlich nur ein Mittel zu einem Zweck. Wenn sie zum Zweck an sich wird, tötet sie den Geist und die lebendige Initiative ihrer Mitglieder und etabliert die Herrschaft der Mittelmäßigkeit, die für alle Bürokratien charakteristisch ist.
Die Anarcho-Syndikalisten sind daher der Meinung, daß gewerkschaftliche Organisation einen Charakter haben sollte, der es den Arbeitern erlaubt, das Äußerste in ihrem Kampf gegen die Unternehmer zu erreichen, und sie gleichzeitig mit einer Basis versieht, von der aus sie in einer revolutionären Situation an die Neugestaltung des ökonomischen und sozialen Lebens gehen können.
Ihre Organisation ist demgemäß nach folgenden Prinzipien konstruiert: Die Arbeiter jeder Gemeinde schließen sich den Vereinigungen ihrer jeweiligen Berufe an, und diese sind keinem Veto ihrer Zentrale unterworfen, sondern genießen das volle Recht der Selbstbestimmung. Die Gewerkschaften einer Stadt oder eines Landkreises vereinigen sich im sog. Arbeiterkartell. Die Arbeiterkartelle sind Zentren lokaler Propaganda und Erziehung; sie schweißen die Arbeiter zur Klasse zusammen und verhindern das Aufkommen irgendeines engstirnigen Fraktionsgeistes. In Zeiten lokaler Arbeiterunruhen arrangieren sie die solidarische Kooperation des gesamten Körpers organisierter Arbeit in der Ausnutzung aller unter den gegebenen Umständen verfügbaren Mittel. Alle Arbeiterkartelle sind nach Distrikten und Regionen gruppiert und bilden die Nationale Föderation der Arbeiterkartelle, die den permanenten Kontakt zwischen den lokalen Organisationen aufrechterhalten soll, die die freie Ausrichtung der produktiven Arbeit der Mitglieder der verschiedenen Organisationen auf die Linie der Kooperation arrangiert und die für die notwendige Koordination im Werk der Erziehung sorgt, bei dem die stärkeren Kartelle den schwächeren werden zu Hilfe kommen müssen. Die Nationale Föderation der Arbeiterkartelle steht den lokalen Gruppen auch ganz allgemein beratend und lenkend bei. Jede Gewerkschaft ist überdies mit allen Organisationen desselben Berufszweiges im ganzen Lande föderativ verbunden und diese wiederum mit allen verwandten Berufszweigen, so daß sie alle in allgemeinen industriellen Allianzen zusammengeschlossen sind. Es ist die Aufgabe dieser Allianzen, die kooperative Aktion der lokalen Gruppen zu organisieren, Solidaritätsstreiks zu führen, wenn die Notwendigkeit hierfür gegeben ist und allen Anforderungen des Tag-zu-Tag-Kampfes zwischen Arbeit und Kapital zu begegnen. So bilden also die Föderation der Arbeiterkartelle und die Föderation der Industriellen Allianzen die beiden Pole, um die sich das gesamte Leben der Gewerkschaften dreht.
Diese Art der Organisation bietet den Arbeitern nicht nur jede Gelegenheit für direkte Aktion in den Kämpfen ums tägliche Brot, sie versieht sie auch mit den notwendigen Voraussetzungen für die Durchführung der Reorganisation des sozialen Lebens nach sozialistischem Plan, die sie dann im Falle einer revolutionären Krise aus eigener Kraft und ohne fremde Einmischung bewerkstelligen können. Anarcho-Syndikalisten sind überzeugt, daß eine sozialistische Wirtschaftsordnung nicht durch Regierungsdekrete und Statuten geschaffen werden kann, sondern ausschließlich durch die solidarische Zusammenarbeit der manuellen und geistigen Arbeiter aus jedem Spezialzweig der Produktion; d. h. durch die Übernahme des Managements aller Betriebsanlagen durch die Produzenten, und zwar in einer solchen Form, daß die verschiedenen Gruppen, Anlagen und Zweige der Industrie unabhängige Mitglieder des allgemeinen Wirtschaftskörpers sind, die die Produktion systematisch vorantreiben und die Distribution der Produkte im Interesse der Allgemeinheit auf der Basis freier gegenseitiger Abmachungen vornehmen. In diesem Fall würden die Arbeiterkartelle in jeder Gemeinde das vorhandene gesellschaftliche Kapitalgut an sich nehmen, die Bedürfnisse der Einwohner des Distrikts bestimmen und den lokalen Verbrauch organisieren. Durch die Tätigkeit der nationalen Föderation der Arbeiterkartelle würde es möglich, die gesamten Bedürfnisse des Landes zu berechnen und die Produktion ihnen anzupassen. Andererseits wäre es Aufgabe der Industriellen Allianzen, die Kontrolle über alle Produktionsmittel, Maschinen, Rohmaterialien, Transportmittel und Ähnliches zu übernehmen und die verschiedenen Erzeugergruppen mit dem zu versorgen, was sie nötig haben. Fassen wir zusammen:
1. Organisation der Betriebsanlagen durch die Produzenten selbst und Leitung der Arbeit durch Arbeiterräte, die von ihnen gewählt werden;
2. Organisation der gesamten Produktion des Landes durch die industriellen und agrarischen Allianzen;
3. Organisation des Konsums durch die Arbeiterkartelle … (Die Arbeiter) müssen einsehen, daß, mögen die unmittelbaren Voraussetzungen ihrer Befreiung in den einzelnen Ländern noch so verschieden sein, die Auswirkungen der kapitalistischen Ausbeutung überall dieselben sind, und deshalb müssen sie ihren Anstrengungen den notwendigen internationalen Charakter verleihen. Vor allem dürfen sie diese Anstrengungen nicht mit den Interessen der Nationalstaaten verbinden, wie es unglücklicherweise bisher in den meisten Ländern geschehen ist. Die Welt der organisierten Arbeit muß ihre eigenen Ziele verfolgen, hat sie doch auch ihre eigenen Interessen zu verteidigen, und diese sind nun einmal nicht identisch mit denen des Staates oder denen der besitzenden Klassen. Eine Zusammenarbeit zwischen Arbeitern und Unternehmern, wie sie nach dem Weltkrieg von der Sozialdemokratischen Partei und den Gewerkschaften in Deutschland propagiert wurde, kann nur dazu führen, daß die Arbeiter zur Rolle des armen Lazarus verdammt werden, der zufrieden sein muß, die Brosamen zu essen, die von der Reichen Tische fallen. Zusammenarbeit ist nur möglich, wo die Ziele und vor allem die Interessen gleich sind … Solange der Arbeiter seine Interessen mit denen der Bourgeoisie seines Landes verknüpft, anstatt mit denen seiner Klasse, muß er in seinem Kampf logischerweise auch alle Konsequenzen dieser Beziehung in Kauf nehmen. Er muß bereit sein, die Kriege der besitzenden Klassen zur Erhaltung und Ausweitung ihrer Märkte zu kämpfen und jede Ungerechtigkeit, die sie anderen Völkern zufügen mögen, zu verteidigen. Die sozialistische Presse Deutschlands war nur konsequent, als sie zur Zeit des Ersten Weltkriegs die Annexion fremden Gebietes forderte. Es war dies nur das unvermeidliche Ergebnis der geistigen Einstellung und der Methoden, die die Arbeiterparteien lange vor dem Krieg gepflegt hatten. Erst wenn die Arbeiter aller Länder einsehen, daß ihre Interessen überall dieselben sind, und wenn sie lernen, aus dieser Einsicht heraus zusammenzuarbeiten, ist eine erfolgversprechende Basis für die internationale Befreiung der Arbeiterklasse gelegt…
Es ist daher heute unsere Aufgabe, das wirtschaftliche Leben der Völker von unten her und im Geiste des Sozialismus neu zu gestalten. Aber nur die Produzenten selbst sind für die Aufgabe geeignet, da sie das einzige werteschaffende Element der Gesellschaft sind, aus dem eine neue Zukunft hervorgehen kann. Ihnen fällt die Aufgabe zu, die Arbeiter von allen Fesseln, die die ökonomische Ausbeutung ihnen angelegt hat, und die Gesellschaft von allen Institutionen und Verhaltensweisen politischer Macht zu befreien und den Weg zu öffnen für eine Allianz zweier Gruppen von Frauen und Männern, die sich am Prinzip kooperativer Zusammenarbeit ausrichtet und die Verwaltungsangelegenheiten im Interesse der Allgemeinheit plant. Einziger und erschöpfender Zweck des modernen Anarcho-Syndikalismus ist es, die arbeitenden Massen in Stadt und Land für dies große Ziel vorzubereiten und sie zu einer militanten Kraft zu vereinigen.
Wird die Befreiung der Arbeit durch die Politik oder durch die direkte Aktion erreicht werden?
Die Haltung des Anarcho-Syndikalismus der politischen Macht des heutigen Staates gegenüber ist genau dieselbe wie die, die sie dem System kapitalistischer Ausbeutung gegenüber einnimmt. Seine Anhänger sind sich völlig im Klaren darüber, daß die sozialen Ungerechtigkeiten dieses Systems nicht auf unvermeidlichen Auswüchsen beruhen, sondern auf der kapitalistischen Wirtschaftsordnung als solcher. Aber während ihre Anstrengungen letztlich auf die Abschaffung der bestehenden Form kapitalistischer Ausbeutung und ihre Ersetzung durch eine sozialistische Wirtschaftsordnung gerichtet sind, vergessen sie nie auch nur für einen Augenblick, mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln darauf hinzuwirken, die Profitraten der Kapitalisten unter den bestehenden Bedingungen zu senken und den Anteil des Produzenten an den Produkten seiner Arbeit so weit als irgend möglich zu heben.
In ihrem Kampf gegen die sich im Staate manifestierende politische Macht bedienen sich die Anarcho-Syndikalisten derselben Taktik. Sie erkennen, daß der moderne Staat lediglich die Konsequenz des kapitalistischen Wirtschaftsmonopols und der damit zusammenhängenden Spaltung der Gesellschaft in Klassen ist und nur dem Zwecke der Erhaltung des Status quo mit allen Zwangsmechanismen der politischen Macht dient. Aber während sie überzeugt sind, daß gemeinsam mit dem Ausbeutungssystem auch seine politische Schutzmacht, der Staat, verschwinden wird, um der Administration der öffentlichen Angelegenheiten auf der Basis freier Übereinkunft Platz zu machen, übersehen sie keineswegs, daß die Anstrengungen der Arbeiter innerhalb der bestehenden politischen Ordnung immer darauf gerichtet sein müssen, alle erreichten politischen und sozialen Rechte gegen jeden Angriff von Seiten der Reaktion zu verteidigen und den Spielraum dieser Rechte fortwährend zu erweitern, wann immer sich eine Gelegenheit hierfür bietet.
Denn gerade so wenig wie der Arbeiter gleichgültig gegenüber den ökonomischen Bedingungen seines Lebens innerhalb der bestehenden Gesellschaft bleiben kann, kann er es der politischen Struktur seines Landes gegenüber. Sowohl im Kampfe um sein täglich Brot als auch für jede Art Propaganda, die auf seine soziale Befreiung hinzielt, bedarf er politischer Rechte und Freiheiten, und er selbst muß in jeder Situation, in der sie ihm verweigert werden, um sie kämpfen und muß sie mit aller Kraft verteidigen, wenn immer der Versuch gemacht wird, sie ihm gewaltsam zu entreißen. Es ist daher völlig absurd zu behaupten, die Anarcho-Syndikalisten zeigten kein Interesse an den politischen Tageskämpfen…
Wenn man natürlich Lenins zynischen Spruch akzeptiert und Freiheit nur für ein „bürgerliches Vorurteil“ hält, dann haben politische Rechte und Freiheiten selbstverständlich nicht den geringsten Wert für die Arbeiter… Aber die Anarcho-Syndikalisten wären die letzten, die die Bedeutung dieser Rechte für die Arbeiter unterschätzten. Wenn sie dennoch jede Teilhabe an der Arbeit bürgerlicher Parlamente zurückweisen, so nicht deshalb, weil sie keine Sympathie für die allgemeinen politischen Kämpfe hätten, sondern weil sie fest davon überzeugt sind, daß die parlamentarische Tätigkeit für die Arbeiter die schwächste und hoffnungsloseste Form des politischen Kampfes ist. Für die bürgerlichen Klassen ist das parlamentarische System ohne Zweifel ein geeignetes Instrument zur Austragung aufkommender Konflikte und zur Ermöglichung fruchtbarer Zusammenarbeit… Aber für die Arbeiterklasse sieht die Situation ganz anders aus. Für sie ist die bestehende Wirtschaftsordnung die Quelle ihrer wirtschaftlichen Ausbeutung und die organisierte Macht des Staates das Instrument ihrer politischen und sozialen Unterdrückung. Auch das freieste Wahlrecht kann den ins Auge springenden Gegensatz zwischen den besitzenden und den besitzlosen Klassen der Gesellschaft nicht unwirksam machen. Es kann nur dazu dienen, einem System sozialer Ungerechtigkeit den Schein der Legalität zu verleihen und den Sklaven dazu zu verleiten, seine eigene Sklaverei mit dem Stempel der Legalität zu versehen. Am wichtigsten aber ist, daß, wie die praktische Erfahrung gezeigt hat, die Teilnahme der Arbeiter am parlamentarischen Geschehen ihre Widerstandskraft lähmt und ihren Kampf gegen das bestehende System zur Nutzlosigkeit verurteilt… Die Anarcho-Syndikalisten sind also in keiner Weise Gegner des politischen Kampfes, aber ihrer Meinung nach muß auch dieser Kampf die Form der direkten Aktion annehmen, in der die der Arbeiterklasse zur Verfügung stehenden Mittel ökonomischer Macht am wirksamsten sind …
Tatsache ist, daß die sozialistischen Arbeiterparteien, wann immer sie eine entscheidende politische Reform durchzusetzen wünschten, erkennen mußten, daß sie sie aus eigener Kraft nicht erreichen konnten, und gezwungen waren, sich voll und ganz auf die ökonomische Kampfkraft der Arbeiterklasse zu verlassen. Die politischen Generalstreiks in Belgien, Schweden und Österreich zur Erreichung des allgemeinen Wahlrechts sind Beweis dafür. Und in Rußland war es der große Generalstreik der Arbeitermassen, der dem Zaren im Jahre 1905 die Feder in die Hand drückte, mit der er die Verfassung unterzeichnete … Der Brennpunkt des politischen Kampfes liegt also nicht in den politischen Parteien, sondern in den wirtschaftlichen Kampforganisationen der Arbeiter. Diese Erkenntnis war es, die die Anarcho-Syndikalisten zwang, all ihre Aktivität auf die Erziehung der Massen zum Sozialismus und den Gebrauch ihrer wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Macht zu konzentrieren. Ihre Methode ist die der direkten Aktion sowohl im wirtschaftlichen als auch im politischen Kampfgeschehen ihrer Zeit. Das ist die einzige Methode, die in der Lage war, in jedem historisch entscheidenden Augenblick etwas zu erreichen. Und die Bourgeoisie hat sich in ihren Kämpfen gegen den Absolutismus auch ausgiebig dieser Methode bedient und hat durch Weigerung, die Steuern zu bezahlen, durch Boykott und Revolution ihre Position als herrschende Klassen in der Gesellschaft trotzig gesichert. Um so schlimmer, daß ihre heutigen Repräsentanten die Geschichte ihrer Väter vergessen haben und angesichts der „ungesetzlichen Methoden“ der um ihre Befreiung kämpfenden Arbeiter Zeter und Mordio schreien. Als habe das Recht jemals einer unterdrückten Klasse erlaubt, ihr Joch abzuschütteln.
Direkte Aktion
Unter direkter Aktion verstehen die Anarcho-Syndikalisten jede von den Arbeitern gegen ihre ökonomischen und politischen Unterdrücker angewandte Methode unmittelbaren Kampfes. Die typischsten darunter sind: der Streik in all seinen Variationen vom einfachen Lohnkampf bis zum Generalstreik; der Boykott; Sabotage in all ihren unzähligen Formen; anti-militaristische Propaganda und in besonders kritischen Fällen, wie heute z. B. in Spanien, bewaffneter Widerstand des Volkes um der Sicherung von Leben und Freiheit willen.
Unter diesen Kampfmethoden ist der Streik, d. h. die organisierte Arbeitsverweigerung, die am meisten verwandte … In ihrer einfachsten Form ist er für die Arbeiter ein unentbehrliches Mittel, ihren Lebensstandard zu heben oder ihre erreichten Vorteile gegen die konzertierte Aktion der Unternehmer zu verteidigen. Aber der Streik ist für die Arbeiter nicht nur ein Mittel zur Verteidigung unmittelbarer ökonomischer Interessen, er ist auch eine fortgesetzte Schulung ihrer Widerstandskräfte … Hier stoßen wir auf die allgemeine kulturelle Bedeutung des Arbeitsstreiks. Die wirtschaftliche Allianz der Produzenten versieht sie nicht nur mit einer Waffe zur Erzwingung besserer Lebensbedingungen, sie wird ihnen zur praktischen Schule, zur „Universität“ der Erfahrung, aus der sie in reichstem Maße Instruktion und Aufklärung ziehen. Die praktischen Erfahrungen und Vorkommnisse der täglichen Kämpfe der Arbeiter finden in ihren Organisationen einen geistigen Niederschlag, vertiefen ihr Verständnis und erweitern ihren geistigen Horizont… Eines der wichtigsten Ergebnisse der täglichen Wirtschaftskämpfe ist die Entwicklung der Solidarität unter den Arbeitern, und dies hat für sie eine ganz andere Bedeutung als die der politischen Koalition von Parteien, deren Anhängerschaft sich aus Mitgliedern aller sozialen Klassen zusammensetzt. Ein Gefühl gegenseitiger Hilfsbereitschaft, deren Stärke im täglichen Kampf um das Lebensnotwendige ständig erneuert wird, weil dieser Kampf an die Kooperation von Menschen, die denselben Bedingungen unterworfen sind, die allerhöchsten Anforderungen stellt… entwickelt sich allmählich zu einem neuen Gefühl des Rechts und wird zum ethischen Postulat, das Voraussetzung aller Anstrengung zur Befreiung einer unterdrückten Klasse ist.
Diese natürliche Solidarität der Arbeiter zu pflegen und zu stärken und jeder Streikbewegung einen tieferen sozialen Charakter zu verleihen, ist eine der wichtigsten Aufgaben, die sich die Anarcho-Syndikalisten gesetzt haben. Aus diesem Grunde ist der Sympathiestreik eine ihrer beliebtesten Waffen… Durch ihn wird der Wirtschaftskampf zu einer Aktion, bei der sich die Arbeiter ihrer als Klasse bewußt werden. Der Sympathiestreik ist die Zusammenarbeit von verwandten, aber auch nicht verwandten Arbeitszweigen, um dem Kampf eines besonderen Berufszweiges dadurch zum Siege zu verhelfen, daß man ihn, wo das nötig ist, auf andere Berufszweige ausdehnt. In diesem Fall begnügen sich die Arbeiter nicht damit, ihre kämpfenden Brüder finanziell zu unterstützen, sondern gehen weiter und schlagen, indem sie ganze Industriezweige lahmlegen, eine Bresche ins ökonomische Leben, um ihren Forderungen Nachdruck zu verleihen …
Die direkte Aktion der organisierten Arbeiterschaft findet ihren stärksten Ausdruck im Generalstreik; in der durch den organisierten Widerstand des Proletariats eintretenden Niederlegung der Arbeit in allen Produktionszweigen, mit allen daraus sich ergebenden Konsequenzen. Er ist die stärkste Waffe, die den Arbeitern zu Gebote steht und verleiht ihrer Stärke als sozialer Faktor den sichtbarsten Ausdruck … Der Generalstreik kann verschiedenen Zwecken dienen. Er kann die letzte Stufe eines Sympathiestreiks sein, wie z.B. der Generalstreik von Barcelona im Februar 1902 oder der von Bilbao im Oktober 1903, die den Bergarbeitern dazu verhalfen, von dem verhaßten Trucksystem (Anm.: Bezahlung der Arbeit in Waren statt in Geld) loszukommen, und die die Unternehmer zwangen, sanitäre Anlagen in den Minen zu errichten. Er kann leicht zu einem Mittel werden, durch das die organisierte Arbeiterschaft irgendeine allgemeine Forderung durchzusetzen sucht, wie z. B. in dem Versuch eines Generalstreiks im Jahre 1886 in den USA, der das Zugeständnis des Achtstundentages in allen Industrien erzwingen sollte …
Aber der Generalstreik kann auch politische Ziele verfolgen, wie z.B. der Kampf der spanischen Arbeiter im Jahre 1904 um die Befreiung politischer Gefangener… Aber in Spanien entwickelte sich die Streikbewegung unter den Arbeitern und Bauern 1936 nach der faschistischen Revolte zu einem „sozialen Generalstreik“ (Huelga general) und führte zum bewaffneten Widerstand und damit zur Abschaffung der kapitalistischen Wirtschaftsordnung und zur Reorganisation des Wirtschaftslebens durch die Arbeiter selbst.
Die große Bedeutung des Generalstreiks liegt in folgendem: Er bringt auf einen Schlag das gesamte ökonomische System zum Stillstand und erschüttert es bis in seine Grundfesten hinein. Überdies ist eine solche Aktion in keiner Weise abhängig von dem praktischen Vorbereitetsein aller Arbeiter, wie ja nie alle Bürger eines Landes sich an einem politischen Umschwung beteiligt haben. Daß die organisierten Arbeiter in den wichtigsten Industriezweigen die Arbeit niederlegen, genügt vollkommen, um den gesamten Wirtschaftsmechanismus lahmzulegen, der ohne die tägliche Versorgung mit Kohle, Elektrizität und Rohmaterialien aller Art nicht funktionieren kann. Aber wenn die herrschenden Klassen mit einer energischen, organisierten Arbeiterklasse, die im täglichen Konflikt geschult sind, konfrontiert werden und erkennen, was auf dem Spiele steht, werden sie sehr viel williger sein, die notwendigen Zugeständnisse zu machen, und vor allem werden sie fürchten, einen Kurs mit den Arbeitern einzuschlagen, der sie zu Extremen treiben könnte…
Ein Generalstreik … führt unvermeidlich zu einer Zersplitterung der militärischen Kräfte, da in einer solchen Situation das Hauptanliegen der Schutz aller wichtigen Industriezentren und der Transportwege vor den rebellischen Arbeitern ist. Das bedeutet aber, daß die militärische Disziplin sich lockert, die immer dann am stärksten ist, wenn die Soldaten in großen Formationen operieren. Wo das Militär in kleineren Gruppen sich dem entschlossenen Kampf des Volkes für seine Freiheit gegenübersieht, besteht immer die Möglichkeit, daß zumindest ein Teil der Soldaten zu der Einsicht gelangen wird, daß es schließlich ihre eigenen Eltern und Brüder sind, auf die sie mit ihren Waffen zeigen. Denn auch der Militarismus ist vornehmlich ein psychologisches Problem, und sein entsetzlicher Einfluß manifestiert sich immer dort am gefährlichsten, wo dem Individuum keine Chance gegeben ist, über seine eigene Würde als Mensch nachzudenken, keine Chance, zu sehen, daß es höhere Aufgaben im Leben gibt als sich den blutigen Unterdrückern des eigenen Volkes zur Verfügung zu stellen …
Unter den Waffen im anarcho-syndikalistischen Arsenal ist Sabotage diejenige, die die Unternehmer am meisten fürchten und am härtesten als „ungesetzlich“ verdammen … Sabotage besteht darin, daß die Arbeiter dem normalen Arbeitsablauf jedes erdenkliche Hindernis in den Weg legen. Das geschieht zumeist dann, wenn die Unternehmer sich einer schlechten wirtschaftlichen Situation oder einer anderen günstigen Gelegenheit bedienen wollen, um die normalen Arbeitsbedingungen durch Lohnkürzungen oder Verlängerung der Arbeitszeit zu verschlechtern. Der Ausdruck selbst leitet sich von dem französischen Wort „sa-bot“, Holzschuh, ab, und bedeutet „so ungeschickt zu arbeiten wie unter den Schlägen von Holzschuhen“. Die ganze Bedeutung der Sabotage erschöpft sich in der Tat in dem Motto: schlechte Arbeit für schlechte Bezahlung… Die Politik des „ca’canny“ (mach‘ langsam), die die englischen Arbeiter zusammen mit der Phrase von ihren schottischen Brüdern übernahmen, war die erste und wirkungsvollste Form der Sabotage. Es gibt heute in jeder Industrie Hunderte von Möglichkeiten, durch welche die Arbeiter die Produktion ernsthaft stören können; unter dem modernen arbeitsteiligen System kann oft die geringfügigste Störung in einem Zweig der Arbeit den gesamten Produktionsprozeß zum Stillstand bringen. So brachten die Eisenbahner in Frankreich und Italien durch den sog. Greve perlee (Perlenstreik) das gesamte Transportsystem in Unordnung. Um das zu erreichen, hatten sie nicht mehr zu tun als dem strikten Buchstaben der bestehenden Transportgesetze zu gehorchen, und es damit unmöglich zu machen, daß irgendein Zug seinen Bestimmungsort fahrplanmäßig erreichte… Der sog. Sitzstreik, der mit so überraschender Geschwindigkeit von Europa nach Amerika verpflanzt wurde und darin besteht, daß die Arbeiter, ohne auch nur einen Finger zu krümmen, Tag und Nacht im Betrieb bleiben, um damit Streikbrecher am Arbeiten zu hindern, gehört zu der Kategorie der Sabotage …
Der soziale Streik
Eine andere wirkungsvolle Form der direkten Aktion ist der soziale Streik, der ohne Zweifel in der nächsten Zukunft eine viel größere Rolle spielen wird. Er ist weniger an den unmittelbaren Interessen der Produzenten interessiert als am Schutz der Gemeinschaft vor den bösartigen Auswüchsen des gegenwärtigen Systems. Der soziale Streik versucht, den Unternehmern ein Verantwortungsgefühl für die Öffentlichkeit aufzuzwingen. Zuallererst geht es ihm um den Schutz der Konsumenten, deren große Mehrheit von den Arbeitern selbst gestellt wird. Die Aufgabe der Gewerkschaft hat sich bislang nahezu ausschließlich auf den Schutz des Arbeiters als Produzent beschränkt. Solange der Unternehmer die vereinbarte Arbeitszeit einhielt und den festgesetzten Lohn zahlte, war dieser Aufgabe Genüge getan. Mit anderen Worten: Die Gewerkschaft ist nur an den Arbeitsbedingungen ihrer Mitglieder interessiert, nicht an der Art der Arbeit, die sie verrichten. Theoretisch ist es in der Tat bestätigt, daß die Beziehung zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer auf einem Vertrag zur Erreichung eines bestimmten Zweckes beruht. Der Zweck ist in diesem Fall die Produktion. Aber ein Vertrag hat nur dann einen Sinn, wenn beide Parteien gleichmäßig an diesem Zweck beteiligt sind. In Wirklichkeit aber hat der Arbeiter heute kein Wort mitzureden bei der Planung der Produktion, diese liegt völlig im Belieben des Unternehmers. Die Konsequenz ist, daß der Arbeiter dazu erniedrigt wird, tausend Dinge zu tun, die nur dazu dienen, die Gesamtheit zum Vorteile des Unternehmers zu schädigen. Er ist gezwungen, von schlechten und oft gefährlichen Materialien Gebrauch zu machen bei der Herstellung seiner Produkte, armselige Wohnungen zu bauen, verdorbene Lebensmittel anzubieten und unzählige Handlungen zu verüben, die zum Betrug des Verbrauchers geplant sind.
Hier rigoros einzugreifen ist nach Ansicht der Anarcho-Syndikalisten die große Zukunftsaufgabe der Gewerkschaften. Ein Fortschritt in dieser Richtung würde gleichzeitig die Stellung der Arbeiter innerhalb der Gesellschaft erhöhen und würde in hohem Grade diese Stellung auch sichern. Verschiedene Anstrengungen auf diesem Gebiet wurden schon gemacht, wie z. B. der Streik der Bauarbeiter von Barcelona bezeugt, die sich weigerten, schlechtes Material und Überreste alter Gebäude zur Errichtung von Arbeiterwohnungen zu benutzen (1902). Die Streiks in den großen Restaurants in Paris, bei denen sich die Küchenangestellten weigerten, um niedrigerer Preise willen halbverfaultes Fleisch zuzubereiten (1906), sind ein weiteres Beispiel…
… Die Resolution der deutschen Rüstungsarbeiter auf dem Kongreß von Erfurt (1919), keine Waffen für den Krieg mehr herzustellen und die Unternehmer zu zwingen, ihre Anlagen für andere Zwecke umzubauen, gehört zu derselben Kategorie …
Als ausgesprochene Gegner aller nationalistischen Ambitionen haben die revolutionären Syndikalisten, besonders in den romanischen Ländern, immer einen beträchtlichen Teil ihrer Aktivität der antimilitaristischen Propaganda gewidmet, indem sie versuchten, die Arbeiter im Soldatenmantel ihrer Klasse loyal zu erhalten und zu verhindern, daß sie ihre Waffen im Falle eines Streiks gegen ihre Brüder kehren … Die Anarcho-Syndikalisten wissen, daß Kriege nur im Interesse der herrschenden Klasse geführt werden; sie glauben daher, daß jedes Mittel legitim ist, das den organisierten Völkermord verhindern kann. Auf diesem Gebiet haben die Arbeiter alle Waffen in ihrer Hand, wenn sie nur den Wunsch und die moralische Kraft besäßen, sie zu nutzen.
Vor allem ist es notwendig, die Arbeiterbewegung von ihrer internationalen Verknöcherung zu heilen und sie von der hohlen Phrasendrescherei der politischen Parteien zu befreien, damit sie geistig die Führung übernehme und aus sich heraus die schöpferischen Voraussetzungen schaffe, die der Realisation des Sozialismus vorausgehen müssen. Die praktische Erreichbarkeit dieses Zieles muß den Arbeitern zur inneren Gewißheit werden und zu einer ethischen Notwendigkeit reifen. Das große Endziel des Sozialismus muß aus allen praktischen Tageskämpfen auftauchen und ihnen einen sozialen Charakter verleihen. Im kleinlichsten Streit, der aus den Bedürfnissen des Augenblicks erwächst, muß sich das große Ziel der sozialen Befreiung spiegeln und jeder derartige Kampf muß helfen, den Weg zu ebnen und den Geist zu stärken, der die innere Sehnsucht seiner Träger in Wille und Tat umsetzt.
Aus: Achim v. Borries / Ingeborg Brandies: Anarchismus. Theorie, Kritik, Utopie. Joseph Melzer Verlag, Frankfurt 1970
Nach: Anarcho-Syndicalism. Indore (Indien) 1938. Aus dem Englischen von Ingeborg Brandies
Hallo
Eine neue Seite ist jetzt online: http://www.syndikalismusforschung.info
Das Informationsportal zur Geschichte der syndikalistischen Arbeiterbewegung
Viel Spaß beim Lesen und reichlich Erkenntnis wünscht die Redaktion!
Gefällt mir sehr gut.
Vielleicht wirds ja was mit der FAU Graz.